Ableismus 1×1
Wie einige von euch wissen, studiere ich Gebärdensprachen an einer Universität in Deutschland. Ein großer Teil davon sind auch die sogeannten Disability Studies, also Studien über Behinderte und ihr Leben in der Gesellschaft im Allgemeinen. Ich will nicht sagen, dass ich eine Expertin auf diesem Gebiet bin, aber ich weiß vielleicht ein paar Dinge mehr darüber als der Durchschnittsmensch. Und heute ist einer dieser Tage, an denen ich das Gefühl habe, dass ich etwas von dem Wissen, das ich erworben habe, mit euch teilen sollte. Vielleicht habe ich auch einfach mal wieder ein Instagram Reel gesehen, das mich wütend gemacht hat…
Was genau versteht man unter dem Begriff “Behinderung”?
Um über dieses Thema zu sprechen, müssen wir zunächst einige der Wörter definieren. Ich verwende hierbei die Begriffe aus dem Englischen, da es die deutsche Übersetzung nochmal anders erklärt werden muss. Jemand gilt als “able”(zu Deutsch “fähig”), wenn der Körper, in den er hineingeboren wurde, den Kriterien dessen entspricht, was die Gesellschaft als “gesund” und “normal” ansieht, was bedeutet, dass er nur aufgrund seines Körpers von der Gesellschaft in keiner Weise behindert wird (lassen wir Rassismus und Sexismus für diese Erklärung einmal außer Acht). “Disabled”(zu Deutsch “unfähig”, wird aber in dem Kontext im Deutschen nicht benutzt) also behinderte Menschen hingegen werden mit oder ohne etwas geboren, was ihnen die Teilnahme an unserer Gesellschaft erschwert.
Stellen wir uns also jemanden vor, der mit beiden Beinen geboren wird, der laufen, Treppen steigen und unabhängig sein kann. Jemand, der ohne oder mit gebrochenen Beinen geboren wird, kann nicht laufen, keine Treppen steigen und ist oft nicht so unabhängig, nicht wegen seiner Behinderung, sondern weil die Gesellschaft Menschen wie ihn oft vergisst. Sie baut Gebäude ohne Rampen, ohne behindertengrechte Toiletten oder sogar ohne Türen, die groß genug sind, damit ein Rollstuhl hindurchpasst. Und wegen dieser Dinge sind behinderte Menschen oft nicht in der Lage, unabhängig zu sein.
In Deutschland lautet die passendere Übersetzung von “disabled” nicht “unfähig” sondern “behindert”, was wörtlich so viel bedeutet wie “daran gehindert werden, etwas zu tun“. In diesem Fall wäre ein Rollstuhlfahrerin aus einem oder mehreren der oben genannten Gründe daran gehindert, ein Gebäude zu betreten. Ihr Problem wäre in diesem Fall nicht ihr Rollstuhl, sondern die Tatsache, dass derjenige, der das Gebäude gebaut hat, nicht daran gedacht hat, wie eine Rollstuhlfahrerin es betreten könnte. Und das ist das allgemeine Problem, mit dem behinderte Menschen im Leben konfrontiert sind, egal welche Art von Behinderung sie haben.
Was ist Ableismus?
Im vorhergehenden Abschnitt, haben wir versucht Rassismus und Sexismus außen vor zu lassen, da die Konzepte bei der Erklärung der Begrifflichkeiten nur hinderlich gewesen wären. Dennoch denke ich, dass ihr deren Definition wohl alle bereits kennt. Behindertenfeindlichkeit auch Ableismus(inspiriert vom englischen Begriff ableism) ist sehr ähnlich, nur dass die Minderheitengruppe, die diskriminiert wird, in diesem Fall behinderte Menschen sind. Diese Diskriminierung kann sehr offensichtlich aussehen, indem zum Beispiel jemand wegen seines “seltsamen Starrens” gemobbt wird, weil die Person vielleicht völlig blind ist und somit nichts hat, worauf sich ihre Augen konzentrieren können. Sie kann aber auch weniger offensichtlich sein, denn manchmal wissen die Menschen gar nicht, dass sie sich ableistisch verhalten.
Ein gutes Beispiel für diese Art von Verhalten hat mich ursprünglich dazu veranlasst, diesen Beitrag zu schreiben, ein weiteres Video auf Instagram. Wie ihr sicher wisst, wurden bereits verschiedene Hilfsmittel entwickelt, die behinderten Menschen helfen sollen, unabhängiger zu leben. Der Rollstuhl ist eines der offensichtlichsten, aber es gibt noch viele andere. Eine Erfindung, die mir in den Sinn kommt, ist ein Teller, der einige Hohlräume und einen kleinen Stöpsel hat, zwischen dennen man das Essen plazieren kann. Er wurde entwickelt, um Menschen, die nur eine Hand oder einen Arm zur Verfügung haben, die Möglichkeit zu geben, ihr Essen ohne die Hilfe einer anderen Person zu schneiden.
Aber diese beiden Gadgets scheinen mir sehr offensichtlich und selbsterklärend zu sein, und es sieht so aus, als gäbe es noch andere, die wiederum die Leute verwirren. Kürzlich sah ich ein Video einer Köchin, die sich über ein Gerät lustig machte, das ich am besten als Eierknacker beschreiben kann, aber einer, das die Arbeit für einen erledigt. Man legt ein Ei in die richtige Position, ergreift den Griff und drückt ihn nach unten, woraufhin Die Eierschale geknackt wird und das rohe Ei in die Pfanne fällt, wo es gekocht werden kann. Die Köchin in dem Video hat den Eindruck erweckt, als sei das eine “unnötige Vorrichtung” und es wäre viel einfacher, ein Ei mit den Händen aufzuschlagen, “das braucht nur etwas Übung”. Das ist schlichtweg ableistisches Verhalten, denn nicht jeder hat die Geschicklichkeit oder die richtigen Körperteile, um ein Ei auf diese Weise aufschlagen zu können. Sich also über hilfreiche Erfindungen lustig zu machen, ist sehr diskriminierend, auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass die Köchin aus dem Video gar nicht daran gedacht hat, welchen Zweck dieses Gerät eigentlich hat.
Gadgets, die behinderten Menschen nützen, können uns allen nützen
Diese indirekte Form von Behindertenfeindlichkeit ist oft auf einen Mangel an Bildung zurückzuführen, wie dies bei vielen anderen Dingen auch der Fall ist. Die Leute wissen oft einfach nicht, dass einige Geräte mit Blick auf behinderte Menschen erfunden wurden und denken deshalb oft gar nicht an diese Möglichkeit. Und nicht alle dieser Erfindungen kommen nur Behinderten zugute, viele von ihnen kommen eigentlich allen in der Gesellschaft zugute. Ich möchte euch nun einige Beispiele nennen.
Seitdem TikTok seinen Höhepunkt erreicht hat und Instagram im Grunde versucht, seine Funktionen zu kopieren, sind kurze videobasierte Inhalte heutzutage der letzte Schrei. POV, Untertitel, Sprache-zu-Text und Spracherkennung sind bereits Teil unseres täglichen Lebens, aber haben wir auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, wie viele dieser Funktionen eigentlich behinderten Menschen mehr helfen als uns? Untertitel wurden vielleicht nicht für Gehörlose entwickelt, aber sie helfen ihnen, sich mit solchen Medieninhalten zu beschäftigen, die ihnen sonst nicht zur Verfügung stünden. Sprache-zu-Text erleichtert blinden Menschen das Schreiben von Texten in digitaler Form, und Hörbücher gibt es im Grunde nur dank Blinden.
Bordsteinabsenkungen, die ich seit letztem Jahr als stolzer Besitzer eines neuen Rollers oft benutze, wurden entwickelt, um Rollstuhlfahrern das Überqueren der Straße zu erleichtern. Schreibmaschinen wurden ursprünglich entwickelt, um blinden Menschen das Schreiben von Briefen zu erleichtern, als das noch populär war 😉 Sogar elektrische Zahnbürsten wurden entwickelt, um dennen mit eingeschränkten motorischen Fähigkeiten zu helfen, und diese Liste könnte noch eine ganze Weile weitergehen, aber ich denke, ich habe meinen Standpunkt klar gemacht.
Fin
Ich hoffe, dass ich mit diesem Beitrag ein wenig mehr Bewusstsein schaffen und die Menschen über Themen aufklären kann, die zumindest zu meiner Schulzeit leider niemandem ein Begriff waren. Behinderte Menschen gibt es in unserer Gesellschaft, sie sind ein Teil von ihr und sollten auch als solcher behandelt werden. Wenn ihr also das nächste Mal etwas in die Hand nehmt, das euch nutzlos erscheint, denkt, bevor ihr es wegwerft oder euch darüber lustig macht, darüber nach, wie es anderen Menschen helfen könnte. Wer weiß, vielleicht entsteht in eurem Kopf sogar eine Idee für ein neues Gerät welches Menschen helfen kann und vielleicht in Zukunft so beliebt sein wird, dass jeder es benutzt. Ich denke, wir sollten einfach öfter an andere Menschen denken, dann würden einige der Probleme, die wir auf der ganzen Welt haben, verschwinden.
Liebe Grüße
The Mad Hattress